Teilen Sie dies:

Die Europäische Kommission hat die ukrainische Regierung am Mittwoch zur sofortigen Erklärung aufgefordert, nachdem das Parlament in Kyjiw ein Gesetz verabschiedet hat, das die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden NABU und SAPO stark einschränkt. Das sogenannte Gesetz Nr. 12414, das am 22. Juli auch von Präsident Wolodymyr Selenskyj unterzeichnet wurde, verleiht dem Generalstaatsanwalt umfassende Kontrollbefugnisse über beide Institutionen. In Brüssel wird diese Entwicklung als potenzielle Bedrohung für die Rechtsstaatlichkeit, die finanzielle Unterstützung durch die EU und den EU-Beitrittsprozess der Ukraine gewertet. Darüber berichtet NUME.ch unter Berufung auf European Pravda.

Inhalt des Gesetzes: Kontrolle statt Unabhängigkeit

Das neue Gesetz erlaubt dem Generalstaatsanwalt unter anderem:

  • aktive Einflussnahme auf Ermittlungen von NABU,
  • die Übertragung von Fällen an andere Behörden,
  • das Erteilen bindender Anweisungen an SAPO-Staatsanwälte,
  • uneingeschränkten Zugriff auf Ermittlungsakten.

Beobachter betonen, dass das Gesetz die institutionelle Trennung zwischen Exekutive und Ermittlungsbehördenuntergräbt. NABU und SAPO waren bislang gesetzlich abgesichert, um unabhängig auch gegen hochrangige Funktionsträger ermitteln zu können.

EU-Kommission und Mitgliedstaaten schlagen Alarm

Guillaume Mercier, Sprecher der Europäischen Kommission, erklärte:

„Beide Institutionen, NABU und SAPO, gelten als zentrale Säulen der ukrainischen Rechtsstaatlichkeit. Ihre Unabhängigkeit ist unerlässlich, um Korruption effektiv zu bekämpfen und das Vertrauen der Bevölkerung zu bewahren.“

Laut European Pravda hat sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen persönlich an Präsident Selenskyj gewandt und um eine formelle Erklärung gebeten. In der Mitteilung heißt es, es dürfe „keine Kompromisse bei der Einhaltung europäischer Rechtsstandards geben.“

Auch EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos äußerte sich besorgt. In Gesprächen mit ukrainischen Regierungsvertretern sprach sie von einem „ernsten Rückschritt“ und warnte, dass derartige Maßnahmen den EU-Beitrittsprozess gefährden könnten.

Finanzielle Konsequenzen nicht ausgeschlossen

Der für Wirtschaft und Finanzhilfe zuständige EU-Kommissar Valdis Dombrovskis betonte, dass „die weitere finanzielle Unterstützung aus Brüssel an die Unabhängigkeit der Antikorruptionsinstitutionen gebunden“ sei.

Auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) warnte in einem internen Hinweis an die ukrainische Regierung, dass Vertrauen internationaler Investoren – insbesondere im Verteidigungsbereich – gefährdet sein könnte.

Scharfe Reaktionen aus den EU-Mitgliedstaaten

Mehrere europäische Länder schlossen sich der Kritik an. Regierungen aus Deutschland, den Niederlanden, Schweden, Finnland, Norwegen, Estland, Island und Tschechien veröffentlichten offizielle Stellungnahmen.

Der tschechische Außenminister Jan Lipavský stellte klar:

„Die Unterstützung für die Ukraine ist kein Freibrief. Wir beobachten die Entwicklungen sehr genau.“

Der französische Europaminister Benjamin Haddad sagte dem Sender France Inter:

„Es ist noch nicht zu spät. Wir fordern Kiew auf, das Gesetz zurückzunehmen. Europa wird in dieser Angelegenheit äußerst wachsam bleiben.“

Reaktion der ukrainischen Regierung

Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte am Abend des 23. Juli an, dass er einen neuen Gesetzentwurf in die Werchowna Rada einbringen werde, der die Unabhängigkeit von NABU und SAPO gesetzlich garantiert.

„Wir haben alle Sorgen gehört – auf den Straßen, in sozialen Netzwerken und in offiziellen Stellungnahmen. Wir werden mit einem Gesetz antworten, das das Rechtssystem stärkt und politische Einflussnahme ausschließt.“

Selenskyj versicherte, es werde keinen russischen Einfluss und keine Einmischung in die Arbeit der Antikorruptionsinstitutionen geben.

Zusicherung aus dem Integrationsministerium

Der ukrainische Vizepremierminister für europäische Integration, Taras Kachka, erklärte gegenüber der Europäischen Kommission, dass EU-bezogene Reformen weiterhin Priorität hätten.

Am 23. Juli diskutierte er mit Rechtsexperten in Kyjiw, welche rechtlichen Schritte erforderlich seien, um auf die Kritik an Gesetz Nr. 12414 zu reagieren.

Parallel: Friedensgespräche mit Russland in Istanbul

Am Abend des 23. Juli trafen sich in der türkischen Residenz Çırağan erstmals seit Monaten ukrainische und russische Delegationen, um über eine mögliche Waffenruhe zu sprechen.

Die Gespräche wurden vom türkischen Außenminister Hakan Fidan eröffnet, der erklärte, Ziel sei ein stabiler Waffenstillstand als Voraussetzung für Friedensverhandlungen.

Die ukrainische Seite wurde von RNSBO-Sekretär Rustem Umjerow geführt, die russische Delegation von Wladimir Medinski, einem engen Berater von Präsident Putin.

Zuvor hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Istanbul Gespräche mit dem ukrainischen Präsidentenberater Andrij Jermak und Umjerow geführt.

Bedeutung für den EU-Beitrittsprozess

Die Ukraine ist seit Juni 2022 offizieller EU-Beitrittskandidat. Im Rahmen des mehrstufigen Beitrittsverfahrens war geplant, im Juli 2025 mit der sogenannten Cluster-Eröffnung zu beginnen – dem Einstieg in konkrete sektorale Verhandlungen in Bereichen wie Rechtsstaatlichkeit, Justiz oder Finanzen.

Nach Angaben von European Pravda und diplomatischen Quellen hatten mehrere Mitgliedstaaten, darunter Deutschland und Frankreich, grünes Licht signalisiert. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte sich persönlich in die Gespräche eingebracht, um bestehende politische Blockaden – insbesondere das Veto Ungarns unter Premier Viktor Orbán – zu umgehen oder neutralisieren zu lassen.

Die erwartete Eröffnung des ersten Verhandlungskapitels fand jedoch nicht statt. In Brüssel wird nun beobachtet, dass interne politische Entscheidungen in der Ukraine, darunter die Verabschiedung des umstrittenen Antikorruptionsgesetzes, zunehmend als Belastung für das Vertrauensverhältnis gewertet werden.

Zwar betonen EU-Diplomaten, dass auch interne EU-Faktoren – wie institutionelle Verfahren, nationale Vorbehalte und technische Vorbereitungen – eine Rolle spielen. Doch der Beschluss des Gesetzes Nr. 12414, das die Unabhängigkeit von NABU und SAPO schwächt, hat die Wahrnehmung der Ukraine in Schlüsselländern deutlich verändert.

Mehrere EU-Staaten werten den Schritt als Abkehr vom eingeschlagenen Reformkurs. Vor allem im Kontext laufender Kriegs- und Wiederaufbaubemühungen gilt verlässliche institutionelle Integrität als Grundvoraussetzung für weiterführende politische Integration und Zugang zu Finanzmitteln.

Ob und wann der Clusterprozess nun startet, hängt nach Einschätzung von Brüsseler Beamten entscheidend von der Reaktion der ukrainischen Regierung auf die aktuelle Kritik ab – insbesondere von der Umsetzung glaubwürdiger Korrekturen am Antikorruptionsgesetz.

Bleiben Sie informiert – Relevantes. Jeden Tag. Lesen Sie, worum es heute wirklich geht:Türkei enthüllt Hyperschallrakete Tayfun Block-4: Reichweite 3.000 km, Geschwindigkeit über 6.000 km/h

Teilen Sie dies: