Von außen wirkt sie ruhig. Doch unter der Oberfläche ist die Schweiz vorbereitet wie kein anderes Land der Welt. Die Schweizer Bunker-Infrastruktur zählt über acht Millionen Schutzplätze – gesetzlich geplant, technisch gewartet, für den Ernstfall bereit.Darüber berichtet NUME.ch unter Berufung auf aktuelle Daten des Bundesamts für Bevölkerungsschutz (BABS).
Die Schweiz – Synonym für Neutralität, Präzision, Stabilität. Doch unter den Straßen von Zürich, den Schulhöfen von Lausanne oder den Parkhäusern von Basel verbirgt sich ein technisches Erbe, das selbst im globalen Maßstab einzigartig ist: ein nahezu flächendeckendes Netz an Bunkern, konzipiert für den Ernstfall, gepflegt mit schweizerischer Gründlichkeit.
Seit den 1960er Jahren existiert in der Schweiz eine gesetzlich verankerte Pflicht, für jede Einwohnerin und jeden Einwohner einen Schutzplatz bereitzustellen. Das Ergebnis: Über 8,6 Millionen Plätze in privaten und öffentlichen Schutzräumen – bei rund 8,9 Millionen Einwohnern. Eine Quote von 96 Prozent. Weltrekord.

Urs Baumann/BZ
Gesetzliche Normalität in einem Ausnahmebereich
Was für andere Länder Ausnahmezustand bedeutet, ist in der Schweiz baurechtlicher Alltag. Gemäß Artikel 45 der Zivilschutzverordnung ist jede Gemeinde verpflichtet, sicherzustellen, dass ausreichend Schutzplätze vorhanden sind. Seit 1963 muss bei Neubauten entweder ein Schutzraum gebaut oder eine Ersatzabgabe entrichtet werden.
Diese Regelung ist nicht Symbolpolitik – sie wird praktisch umgesetzt. Die Bunker sind real, geprüft, katalogisiert. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (BABS) veröffentlicht jährlich aktualisierte Karten, technische Spezifikationen und Zugangshinweise.
Architektur der Autonomie
Ein typischer Schutzraum in der Schweiz ist nicht bloß ein Betonraum. Er ist Teil eines technischen Systems: ABC-Filteranlagen, gasdichte Türen, Notstromlüftung, Vorratsbereiche, Nottoiletten. Selbst das Raumvolumen ist gesetzlich festgelegt: mindestens ein Kubikmeter pro Person.
Einige Schutzräume sind eigenständige unterirdische Bauten; andere befinden sich in Mehrfamilienhäusern, unter Schulen oder in Tiefgaragen – als "Doppelnutzung", die im Friedensfall kaum auffällt, im Ernstfall aber binnen Stunden aktiviert werden kann.

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Regionale Unterschiede: Vorsorge im föderalen System
Nicht alle Regionen sind gleich ausgestattet. Kantone mit hoher Bautätigkeit und urbaner Dichte wie Zürich, Aargau oder Luzern weisen teils über 100 % Deckungsgrad auf. In ländlichen Gebieten oder in historisch weniger bebauten Regionen wie dem Tessin oder Appenzell liegt der Anteil teils unter 90 %.
Kanton | Schutzplatzabdeckung (%) | Besonderheit |
---|---|---|
Zürich | 118 % | Höchste Dichte an privaten Räumen |
Aargau | 110 % | Hoher Neubauanteil |
Genf | 95 % | Fokus auf öffentliche Schutzräume |
Appenzell Inn. | 67 % | Kleine Bevölkerung, wenig Bedarf |
Quelle: BABS, 2023
Warum Bauherren Schutzräume einplanen – und was es kostet
Obwohl der Bau eines Schutzraums keine steuerlichen Vorteile bringt, ist er in der Schweiz baurechtlich vorgeschrieben. Gemäß Artikel 45 der Zivilschutzverordnung muss jede Person im Ernstfall Zugang zu einem Schutzplatz haben. Wer ein Mehrfamilienhaus plant, ist deshalb verpflichtet, entweder:
- einen Schutzraum zu integrieren (inkl. Filteranlage, Notbelüftung, Stahlbetontüren),
- oder eine Ersatzabgabe zu entrichten – in der Regel 700 bis 1.000 Franken pro Person, die später von der Gemeinde für öffentliche Schutzräume verwendet wird.
Für Bauträger ist der Bau eines Schutzraums oft die wirtschaftlichere Lösung, wenn mehr als zehn Personen im Objekt wohnen. Die durchschnittlichen Baukosten betragen laut Branchenanalysen zwischen 20.000 und 45.000 Franken, abhängig von Raumgröße, Ausstattung, Erreichbarkeit und Lage im Baukörper.
Viele private Bauherren nutzen diese Räume in Friedenszeiten als Technik-, Lager- oder Hobbyräume, was den Wert der Immobilie steigert – insbesondere im gehobenen Segment, wo Krisenvorsorge mittlerweile ein Verkaufsargument ist. Auch Banken und institutionelle Investoren bewerten Schutzräume zunehmend als stabilitätssteigerndes Merkmalbei Renditeobjekten.
Deutschland und der Rückbau eines Sicherheitsdenkens
Ein Kontrastbeispiel zur schweizerischen Schutzraumstrategie ist Deutschland. Auch hier gab es bis in die 1990er Jahre eine weitreichende staatlich geförderte Infrastruktur für Zivilschutzräume – ein Relikt des Kalten Kriegs, der in Westdeutschland mit dem Aufbau tausender öffentlicher und teilöffentlicher Bunker beantwortet wurde. Doch mit dem politischen Paradigmenwechsel nach dem Mauerfall änderte sich die Haltung grundsätzlich.
Im Jahr 2007 stellte das Bundesministerium des Innern das nationale Schutzraumprogramm offiziell ein. Die Begründung: Die Bedrohungslage habe sich verändert, ein Angriff auf deutsches Staatsgebiet sei "nicht mehr vorstellbar". Damit entfielen gesetzliche Grundlagen, Wartungsverpflichtungen und Neubauanforderungen. Tausende Anlagen wurden versiegelt, verkauft oder umgenutzt – von der Weinkellerei bis zur Tiefgarage. Gleichzeitig entstanden neue Wohn- und Gewerbeprojekte vollständig ohne Schutzraumkomponenten, da die Bauverordnungen dies nicht mehr vorsahen.
Heute existieren laut Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) noch etwa 2.000 ehemalige Schutzräume, von denen nur ein kleiner Teil betriebsbereit wäre. Realistisch könnten weniger als ein Prozent der Bevölkerung im Ernstfall untergebracht werden – bei 84 Millionen Einwohnern ein sicherheitspolitisches Vakuum.
Erst nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 begann ein erneutes Nachdenken über die Rolle des Bevölkerungsschutzes in Deutschland. Innenministerin Faeser kündigte Prüfungen und Modernisierungen an. Doch bislang fehlt eine strukturelle Neubewertung vergleichbar mit der Schweizer Gesetzgebung – konkrete gesetzliche oder finanzielle Maßnahmen sind ausgeblieben.
Europäische Schutzraum-Realitäten im Vergleich
Die Schweiz steht mit ihrem systematischen Ansatz nicht allein, aber doch einzigartig dar. Auch andere Länder Europas verfügen über Schutzräume – jedoch in stark unterschiedlichen Strukturen und politischen Verankerungen:
Land | Schutzplatz-Abdeckung | Gesetzliche Pflicht | Anmerkung |
---|---|---|---|
🇨🇭 Schweiz | ca. 96 % | Ja | Weltweit einzigartig geregelt |
🇫🇮 Finnland | ca. 85 % | Ja | Schutzräume oft unter Wohnblocks & Einkaufszentren |
🇸🇪 Schweden | ca. 70 % | Teilweise | Wiederaufbau nach 2022 durch neues Zivilschutzgesetz |
🇮🇱 Israel | sehr hoch | Ja | „Mamad“-Räume in jedem Neubau gesetzlich vorgeschrieben |
🇩🇪 Deutschland | <1 % | Nein | Rückbau, keine neue Bauverpflichtung |
Eine stille Renaissance unter der Oberfläche
Im Frühjahr 2022, wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, schnellte der Datenverkehr auf den Webseiten des Bundesamts für Bevölkerungsschutz (BABS) um nahezu 900 Prozent in die Höhe. Tausende Bürgerinnen und Bürger suchten nach digitalen Schutzraumkarten, Zugangsinformationen, Notfallplänen.
Gemeinden reaktivierten verstaubte Krisenprotokolle, überprüften Filteranlagen, aktualisierten Inventarlisten. Was jahrzehntelang wie ein Relikt des Kalten Kriegs erschien – verschlossen, belächelt, vergessen – wurde plötzlich zum realpolitischen Szenario. Der Schutzraum wurde wieder Teil kollektiven Denkens, Teil öffentlicher Verantwortung.
Was im Beton eingeschrieben ist
Die Schweiz hat nie aufgehört, sich vorzubereiten – nicht aus Hysterie, sondern aus Haltung. Der Schutzraum ist kein unterirdisches Symbol der Angst, sondern architektonischer Ausdruck eines Staatsverständnisses, in dem der Schutz des Einzelnen auch im Ausnahmezustand nicht zur Option, sondern zur Pflicht wird.
In einer Welt wachsender geopolitischer Unwägbarkeiten, gestörter Lieferketten, Stromlücken und Informationskriege, liegt in den Tiefen der Alpen nicht nur Beton, Granit und Technik.
Dort ruht – sichtbar nur für jene, die hinsehen – eine still gebaute Lehre über Weitsicht, Verantwortung und republikanische Ernsthaftigkeit.
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Haupt Bild von Emilien Itim